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Neue und alte Formen des Lernens

Wirkungen auf das Gehirn und auf die Entwicklung der Menschen in Unternehmen

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„Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess“
(Thorsten Dirks, Eurowings-Vorstand der Lufthansa Group).

 

Personalentwicklung mit Virtual Reality Brille? Change-Kommunikation jetzt nur noch über Social Media Plattformen im Intranet? Und dann wird alles besser? Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass neue Formen des Lernens zwingend digital sein müssen. Natürlich spielen E-Learning und andere digitale Methodiken eine zunehmend wichtige Rolle in einer Zeit, in der relevante Informationen immer schneller verfügbar sein müssen. Dennoch sind neue Formen des Lernens oft 100%ig analog. Und ebenso oft besteht das Neue in einer Wiederentdeckung dessen, was uns schon unsere Großeltern gelehrt haben: von alten Werten und Tugenden, die aus der Mode gekommen sind, vielleicht, weil sie im MBA-Curriculum nicht mehr vorkommen. Dann kann es hilfreich sein, ihren Wert mithilfe von Wissenschaft wieder ins rechte Licht zu rücken und sie – sozusagen mit der Autorität des Laborkittels – zu rehabilitieren.  In jedem Fall entscheidet über die Qualität des Lernangebotes weniger die Methode (und noch weniger die Menge an eingesetzten „Tools“), sondern vielmehr der Grad an achtsamer Bewusstheit, an Reflexionsbereitschaft und am Mut aller Beteiligten. Im Idealfall wird Entwicklung so zu einem gemeinsamen Reifungsprozess von Lernenden und Lehrenden.

 

Warum ist die Auseinandersetzung mit dem betrieblichen Lernen für Führungskräfte wichtig?

 

Dass auch gut etablierte Unternehmen sich beständig und grundlegend weiterentwickeln müssen, ist eine – in der Praxis leider nicht immer beherzigte – Binsenweisheit. Die Wirtschaftsgeschichte dagegen ist ein Gräberfeld gescheiterter Traditionsunternehmen wie Kodak, Quelle oder Nokia, deren Führungskräfte und Belegschaften nicht flexibel genug waren, die bewährten Erfolgsmodelle in Frage zu stellen und neue Marktentwicklungen  (Digitalkamera statt Belichtungsfilm, Online-Shop statt Print-Katalog, Smartphone statt „Handy-Knochen“) radikal genug aufzugreifen. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Unternehmen derzeit durch die schnell voranschreitende Digitalisierung und die durch sie bedingten Veränderungen im Arbeitsprozess.

 

Dass wir die Erfolgsmodelle von gestern und heute meist unhinterfragt als Fahrplan für unser Morgen übernehmen, liegt nicht zuletzt an der Arbeitsweise unseres Gehirns. Denn das Gehirn verdrahtet lang eingeübte Gewohnheiten auf Hardware-Ebene und baut sie durch das Wachstum von Synapsen in unsere neuronale Infrastruktur ein. Dies gilt besonders dann, wenn bestimmte Verhaltensweisen durch Erfolge belohnt wurden. Durch diesen Vorgang, der in der Gehirnforschung Neuroplastizität heißt, entsteht eine Art unbewusstes Verkehrsleitsystem, das uns auf dem Kurs des Altbewährten hält und das der normativen Kraft des Faktischen zugrunde liegt. Weichen wir davon ab, und sei es nur durch einen unkonventionellen Vorschlag in einer Besprechung, entsteht im Gehirn ein unangenehmes Fehlersignal, das sich so anfühlt, als würden wir eine rote Ampel überfahren. Dennoch innovativ zu denken und zu handeln erfordert geistige Beweglichkeit, Mut und die emotionale Kraft, auch einmal gegen den Strom der eigenen Gefühle oder der opportunen Mehrheitsmeinung zu schwimmen.

 

Oft leistet uns dieses Verkehrsleitsystem gute Dienste, so etwa, wenn es darum geht, Kernwerte des Unternehmens zu bewahren und – allen Moden, Trends und Hypes zum Trotz – an bewährten Produkten und Arbeitsweisen festzuhalten. Problematisch wird es dagegen immer dann, wenn sich die Welt außerhalb oder innerhalb des Unternehmens so stark verändert, dass Anpassungen wirklich erforderlich werden. Dies können etwa Veränderungen in der Produktpalette, im Produktionsablauf, in der Vermarktungsstrategie, in Arbeitszeitmodellen oder in den Organisationsstrukturen sein. Leider stellen sich jedoch die dafür erforderlichen Fähigkeiten und Haltungen wie Flexibilität, Veränderungs-bereitschaft, innovatives „out-of-the-box-Denken“ oder selbstverantwortliches Handeln nicht von jetzt auf gleich ein, wenn sie benötigt werden.

 

Diese Fähigkeiten und Haltungen wollen verstanden, erfahren, erlernt und immer wieder neu eingeübt werden. Dies gelingt in der Regel nicht, wenn die Hütte schon brennt. Das wissen wir aus Erfahrung und können es auch mit Befunden der Hirnforschung trefflich belegen: Denn Handlungsdruck, Stress und Hektik lassen die EEG-Frequenzen im Frontalhirn in einen Bereich steigen, in dem wir nicht mehr geordnet denken und handeln können, wenn wir uns nicht auf bewährte Handlungsroutinen aus tiefer liegenden Hirnarealen verlassen können („Das haben wir schon immer so gemacht!“). Der „Change in letzter Minute“ scheitert damit häufig an stressbedingten Frontalhirn-Ausfällen.

 

Ein wichtiger Teil der Führungskunst besteht folglich darin, das Lernen von neuen Denk- und Handlungsmustern zu ermöglichen, wenn sie noch nicht unbedingt gleich morgen funktionieren müssen. Hierfür braucht es geeignete Lernangebote und einen lernfördernden Rahmen. Bei der Maßnahmenkonzeption ist viel unternehmerisches Denken und die Abkehr von der Tyrannei des unmittelbaren Nutzenstrebens gefragt („Wofür brauchen wir das?“, „Wieviel produzieren wir dadurch mehr?“, „Es läuft doch alles, warum sollen wir daher jetzt etwas tun?“). Denn wenn Sie eine Entwicklungsmaßnahme jetzt schon unbedingt brauchen, haben Sie sich vermutlich schon zu lange auf Ihren Lorbeeren ausgeruht und geraten tendenziell unter Zeitdruck. Der wiederum ist Gift für menschliche Entwicklungsprozesse, die auf organischem Wachstum im wahrsten Wortsinn beruhen. Schließlich wächst das Gras auch nicht schneller, wenn man daran zieht. Erfolgsentscheidend ist ferner der enge Schulterschluss zwischen der Unternehmensleitung, den Führungskräften und der Personalabteilung. Denn letztendlich kosten Lernen und Veränderung produktive Arbeitszeit und können, bis das Neue wieder zur Routine wird, die aus den eingefahrenen Abläufen gewohnte Produktivität vorübergehend reduzieren – und das muss von allen Beteiligten als sinnvolle Investition gewollt und im Alltag unterstützt werden. Sonst versanden alle Bemühungen in ein paar folgenlosen „Schulungen“, die im Alltag kaum umgesetzt werden.

 

Neue Anforderungen an die Entwicklung von Mitarbeitenden brauchen neue Formen des Lernens

 

Die Trainings- und Beratungsbranche treibt jedes Jahr eine bis zwei neue Säue durchs Dorf. Eine Best Practice jagt die nächste und die immer neuen, heilversprechenden Methoden geben sich die Klinke in die Hand. In der Industrie etwa führt derzeit das Konzept der Agility die Trainings-Hitlisten an und Mitarbeiter wie Führungskräfte werden mit SCRUM-Ausbildungen, Design-Thinking-Seminaren und ähnlichem überschüttet. Diese sind in bestimmten Kontexten sinnvoll und wichtig. Allerdings tendiert alles zum Unfug, wenn es ohne Berücksichtigung der Unternehmensziele auf jeden und alles ausgekippt wird („Wir machen jetzt alles agil“). Was dabei oft auch verlorengeht, ist die Erkenntnis, dass niemand zum guten Handwerker wird, indem er einen Baumarkt leer kauft und eine möglichst große Menge an „Werkzeugen“ einkauft. So kommt es auch beim Thema Veränderung meist weniger auf die Methoden an sich als auf das Verstehen, bewusste Wahrnehmen sowie auf die innere Haltung an.

 

Aus diesem Grund sollte vor jeder Entscheidung über den Einsatz der einen oder anderen Lernform die Auseinandersetzung mit den folgenden Fragen stehen: Wo wollen wir überhaupt hin? Was soll gleichbleiben, was soll sich verändern? Was wäre schlimm daran, wenn wir einfach so weitermachen? Welche Chancen sehen wir, wenn wir Neues integrieren...? Eine solche gründliche Reflexion am Anfang kann so manch nutzlose Maßnahme verhindern (deren Budget besser in Freibier oder einen Betriebsausflug investiert worden wäre) und Investitionen auf zieldienliche Projekte bündeln. Eine solche Frage kann sein: Wie füllen wir ein System, dessen Einführung beschlossen wurde (z.B. SAP Success Factors / Learning) mit Leben, so dass es das Lernen und die Entwicklung unserer Organisation mit hoher Wahrscheinlichkeit unterstützen wird?

 

Denn die Etablierung neuer Lernumgebungen und der sie ermöglichenden Technik ist letztendlich ein Projekt der Organisationsentwicklung, sodann der Führungskräfte-entwicklung und schließlich der Personalentwicklung. Nur die Beantwortung der Frage nach den strategischen Zielen gibt Antworten auf die Lernziele und nur die Lernziele geben Antwort auf die Frage nach der erfolgversprechenden Methodik.

 

Unternehmen, mit denen wir bisher zusammengearbeitet haben, formulieren oft die folgenden Entwicklungsbedarfe, aus denen dann Lernziele abgleitet werden können:

 

  • Wir wollen Entscheidungen schneller treffen (und nicht mühsam durch viele Gremien und Meetings schleusen, bis der Wettbewerb und das Heft aus der Hand nimmt). Dazu sollen Führungskräfte lernen, an qualifizierte Mitarbeitende Verantwortung und Befugnisse abzugeben. Die Mitarbeitenden sollen befähigt werden, diese neue Verantwortung auch aushalten und ausfüllen zu können. Dafür setzen wir experimentelle Lern-Projekte auf, in denen dies aufgabenspezifisch für eine definierte Zeit ausprobiert werden kann.

  • Unsere Mitarbeitenden sollen sich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen selbständiger weiterbilden und weiterentwickeln. Als Experten für ihre Tätigkeit sollen sie sich relevantes Wissen dann beschaffen können, wenn es gebraucht wird und nicht auf eine „Schulung“ warten, die vielleicht schon wieder veraltet oder irrelevant ist, wenn sie die Planungsprozeduren passiert hat. Dazu fördern wir die interne Vernetzung und schaffen auf technischer Seite Plattformen, auf denen Wissen bei Bedarf eingestellt und abgerufen werden kann (z.B. SAP Success Factors). So wird Wissen nicht mehr nur zentral über die Personalentwicklung angeboten (Push-Prinzip), sondern bei Bedarf geholt (Pull-Prinzip).

  • Wir brauchen Perspektiven für die Mitarbeitenden, deren jetzige Tätigkeit durch Automatisierung ersetzt wird. Dazu stellen wir z.B. interne Online-Trainings zur Verfügung oder fördern die Qualifizierung durch Freischaltung von externen Angeboten über geeignete Anbieter (z.B. edX, Coursea, Udemy, Udacity etc.). Schließlich rangiert die Fähigkeit, den eigenen Tätigkeitsbereich selbst immer wieder neu zu erfinden, in den vorliegenden employability Studien ganz weit oben.

  • Wir wollen das selbständige Arbeiten, die interne Vernetzung und die kompetente Kommunikation miteinander fördern. Dazu regen wir z.B. sogenannte Working-out-Loud-Gruppen an. Working-out-Loud Gruppen sind selbstorganisierte Arbeitsgruppen aus ca. fünf Mitarbeitenden, die jeweils über mehrere Wochen ein Arbeitsergebnis erstellen oder eine neue Kompetenz erlernen. Man trifft sich einmal die Woche und reflektiert die jeweiligen Arbeitsschritte nach einem strukturierten Plan. Es gibt dabei keinen „Trainer“, der den Leuten sagt, was sie zu tun haben – sie sind für die Ergebnisse komplett selbst verantwortlich und unterstützen sich gegenseitig bei der Recherche und der Dokumentation. Allenfalls kann am Anfang ein Prozessbegleiter („Facilitator“) sinnvoll sein, der die Einhaltung des strukturierten Rahmens gewährleistet. Die Ergebnisse werden von den Teilnehmenden in Form von Unterlagen, Videos etc. der Allgemeinheit zu Verfügung gestellt, so dass die Lernenden selbst zu Lehrenden werden.

  • Wir wollen Lernerfolge nachhaltiger machen und die Umsetzung im Alltag fördern. Dazu schaffen wir technische Möglichkeiten, die es erlauben, Mitarbeitenden jeden Tag einen 2-3-minütigen Input zu einem arbeitsrelevanten Thema zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel ein Kurz-Video zur Fehlerbehebung an einer Anlage, einen fünfzeiligen Text zu einem Aspekt der Arbeitssicherheit etc. Dieser Micro-Input („Brain Snacks“ / „Brain Nuggets“) wird als E-Mail oder, wenn gewünscht, per SMS, What’sApp & Co. in definierten Zeitfenstern an die Teilnehmenden gesandt. Durch die hohe Alltagsdurchdringung wird ein neuroplastischer Impact erreicht, den ein zeitlich und räumlich isoliertes Lehrangebot (wie eine eintägige Schulung) kaum erreichen kann. Außerdem können die Inhalte schnell mit aktuellen Fragestellungen im Arbeitsleben verknüpft werden, was den Transfer und die Integration deutlich erleichtern. Ein entscheidender Vorteil ist auch, dass an solchen niedrigschwelligen Angeboten das Argument, keine Zeit zu haben, schlichtweg abprallt. Die Leute bleiben am Ball, zumal der E-Mail-Client und die Smartphones für die meisten ohnehin zum festen Bestandteil des Alltags geworden sind.

Dies sind nur einige Beispiele für neue Lernmethoden, die unmittelbar aus neuen Anforderungen an die Entwicklung entstehen. Warum aber kann man solche Kompetenzen wie Flexibilität, Veränderungsbereitschaft, Verantwortungsübernahme nicht einfach mit den klassischen „Schulungen“ vermitteln?

 

Klassische „Schulungen“ und neue Lernformate

 

Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden. Für viele Inhalte reichen die herkömmlichen Trainingsformate völlig aus. Sie wollen an Ihren Präsentationskünsten feilen oder Mitarbeitergespräche besser führen? Dann ist das klassische Workshop-Setting mit hohem Feedback- und Coaching-Anteil die Methode der Wahl. Geht es aber nicht um die Optimierung vorhandener Fähigkeiten, sondern um Musterbrüche – also die Veränderung von Gewohnheiten, die Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind oder gar um die Arbeit an inneren Haltungen, dann werden zwei Tage im Seminar unter Umständen nicht viel bewirken. Hier stoßen wir an die harten Grenzen, die die Gesetze der Neuroplastizität als Rahmenbedingungen der Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen definieren.

 

Das allgemeinste Gesetz lässt sich so formulieren: Gehirne werden so wie wir sie gebrauchen. Was häufig und mit hoher emotionaler Beteiligung getan wird, gräbt sich ins neuronale Straßennetz unserer Gehirne ein. Was nur selten, etwa an zwei Schulungstagen im Jahr, erfahren wird, geht - nach dem zweiten Gesetzt der Neuroplastizität („Use it or lose it“) wieder verloren. Die entstandenen Synapsen werden – ähnlich wie untrainierte Muskeln - wieder abgebaut, wenn sie nicht fortwährend benutzt werden.

 

Aus diesen Befunden ergeben sich mehrere Konsequenzen für das betriebliche Lernen:

 

  1. Selbstorganisierte Formen des Lernens. Wenn es Ihr Ziel ist, dass Mitarbeitende selbständiger und eigenverantwortlicher arbeiten, sind allzu viele vorstrukturierte „Seminare“ oder „Schulungen“ eher kontraproduktiv. Denn hier nehmen Trainerinnen und Trainer den Teilnehmenden die Verantwortung für das Lernen ab – einschließlich der Entscheidung darüber, was relevant und irrelevant, was richtig und falsch ist und was in welcher Reihenfolge „drankommt“.

    Das ist eine Lernform wie wir sie aus der Schule kennen. Sie eignet sich allenfalls zur Vermittlung von Wissen (das man sich heute kostengünstiger in einem Lehrvideo ansehen kann) oder von einfachem Kochrezept-Know-How nach dem Motto „Wie Sie in sieben Schritten…(was auch immer erreichen)“. Da solches prozedurale Können (wenn es denn Können ist) immer mehr von Algorithmen übernommen wird, verliert es für die Personalentwicklung zunehmend an Bedeutung.

    Um Meta-Kompetenzen wie Selbstorganisationfähigkeit einzuüben sind eigenver-antwortlich gestaltete Lerngruppen wie etwa die Working-out-Loud-Zyklen eine gute Option. Eine weitere Möglichkeit ist die Freischaltung von Microdegree-Programmen, bei denen Teilnehmende sich zum Beispiel in Eigenregie in einen Online-Zertifikatskurs einschreiben und eine technische, betriebswirtschaftliche oder überfachliche Kompetenz erwerben.

  2. Auslagerung der reinen Wissensvermittlung in digitale Selbstlernformate mit Kontaktmöglichkeit zu Experten für die Beantwortung von Fragen, zum Beispiel über themenspezifische Foren, Video-Konferenzen oder Workshop-Tage (Blended Learning). Das bringt das Lernen näher an den Arbeitsplatz, spart Kosten und entlastet die wertvolle und teure Präsenzzeit von Wissensballast, der ohnehin besser ortsunabhängig im eigenen Tempo online gelernt werden kann. In den „realen“ Workshops  bleibt damit umso mehr Zeit für alle Themen, die der Diskussion, der gemeinsamen Problemlösung oder gar des (Team-)Coachings bedürfen.

  3. Präsenzveranstaltungen bleiben wichtig: besonders für den zwischenmenschlichen Kontakt und für „heiße Themen“. Viele Veränderungen wie etwa die Herausbildung von Selbstorganisationsfähigkeit in einem Unternehmen erfordern gravierende Haltungs- und Verhaltensänderungen. Wer zum Beispiel als Führungskraft seine Mitarbeiter andauernd kontrolliert oder väterlich/mütterlich „unterstützt“, erzeugt eben auch eine Lernerfahrung: „Ich kann und darf es nicht selbst tun, dann bleibe ich lieber in meinem Komfortzone und lasse den Chef / die Chefin entscheiden.“ Um Kontrolle oder Überfürsorglichkeit abzulegen, müssen sich Führungskräfte den damit einhergehenden Ängsten vor Bedeutungsverlust und schwindender Unentbehrlichkeit („Ohne mich läuft hier gar nichts“) sowie vor Fehlern („Was mache ich, wenn der Mitarbeiter Mist baut und meine eigenen Vorgesetzten bekommen Wind davon?“) stellen und sie bearbeiten.

    Dies wiederum ist am besten in einem geschützten Workshop-Setting möglich, das ich einmal frech als „Business-Therapie“ bezeichnet habe. Hier dürfen schon mal die Gefühle hochkochen. Denn um grundlegende Muster in unserem Gehirn umzustrukturieren, braucht die Neuroplastizität besonders intensive Stimulation. Die Ausschüttung von Neurotransmittern wie Noradrenalin oder Dopamin ist eine wesentliche biochemische Rahmenbedingung für solche tiefgreifenden Veränderungsprozesse. In ausreichend hohen Konzentrationen werden diese Botenstoffe dann produziert, wenn Menschen emotional aufgewühlt sind und mit der Aussicht auf ein lohnenswertes Ziel in Kontakt mit der ganzen Palette ihrer angenehmen und unangenehmen Gefühle kommen.

  4. Happy und unhappy Learning. Das Neue daran ist eher eine Wiederentdeckung des Alten. Denn spricht man heute in der Trainingspsychologie (insbesondere in der Psychologie der Führungskräfteentwicklung) von der Bedeutung des „unhappy learning“ für tiefgreifende Entwicklungsprozesse, so meint man damit eigentlich etwas Selbstverständliches: Lernprozesse enthalten Lustvolles ebenso wie Frustration und Komplexität. Wer seine Sprösslinge schon einmal beim Laufenlernen oder Sprechenlernen beobachtet hat, weiß dies nur zu gut: der Wechsel von Gehen, Hinfallen, Brüllen und Aufstehen gehört dazu – ebenso wie das Nicht-Verstehen beim Erwerb der Muttersprache. Hätte Mama gesagt: „Präpositionen sind dieses Jahr noch nicht dran“ und hätte sie uns nur zugemutet, was wir auch gut verstehen, so könnten wir heute noch nicht sprechen.

    Das betriebliche Lernen dagegen ist – bei allem Gerede von Emotionalisierung und „Emotionaler Intelligenz“ – heute noch weit entfernt davon, das ganze Gefühlsspektrum zuzulassen und entwicklungswirksam zu machen. Zu stark ist der Glaube an die alleinseligmachende Wirkung des Positiven: von Motivation, Freude, ja Begeisterung. Die Vermeidung von Angst, Scham, Schuld, Ärger und anderen negativen Gefühlszuständen in fast sämtlichen Formen des betrieblichen Lernens wird durch die gängige Evaluationspraxis sogar noch verstärkt. Schließlich sind Dienstleister oft von guten Seminarbewertungen abhängig. Leider messen solche  „Happy-Sheets“ (allen Kontroll-Illusionen von Kennzahlen-Liebhabern zum Trotz) nicht die Qualität oder die Wirkung von Seminaren, sondern den subjektiven Wohlfühlcharakter der Veranstaltung. Dieser jedoch korreliert oft eher mit einem ausreichenden Maß an Bespaßung innerhalb der Komfortzone als mit anstrengenden, herausfordernden und manchmal eben auch unangenehmen Konfrontationen in der Lern- und Entwicklungszone. Dafür aber braucht es eine neue Personalentwicklung mit Zumutungscharakter.

  5. Personalentwicklung mit Zumutungscharakter. Wenn es Ihr Ziel ist, dass Mitarbeitende und Führungskräfte es lernen, Komplexität zu verarbeiten, die über die notorischen sieben Bullet Points eine PowerPoint-Präsentation hinausgeht (das tun fast alle Sachverhalte der realen Welt), sich unbequemen Herausforderungen zu stellen (z.B. den vielen Zwickmühlen des Führungsalltags) und unter Unsicherheit Entscheidungen treffen können, muss auch betriebliches Lernen mehr Zumutungscharakter bekommen. Das bedeutet:

    Reale Komplexität statt der Infantilisierung erwachsener Menschen durch didaktische Reduktion
    zum Beispiel in Form von vorgekauten Schritt-für-Schritt-Anleitungen, durch peinliches Vermeiden von „Fremdwörtern“, durch die Arbeit mit vordesignten harmlosen „Fallbeispielen“ statt mit den realen Problemen im Unternehmen. Das gilt übrigens unabhängig davon, ob ein Training im klassischen Seminarraum-Setting oder digital stattfindet. 

    Bewusste Frustration von Strukturbedürfnissen („Was steht wann genau auf der Agenda?“, akribisches Arbeiten nach „Trainerleitfaden“) zugunsten von Erkenntnisprozessen, die sich aus der Gruppe heraus entwickeln und damit in ihrem Verlauf unvorhersehbar sind. In offenen Lernsettings lernen Menschen, sich selbst im Dialog mit anderen Strukturen zu schaffen und Mitverantwortung für die Gestaltung eines Gruppenprozesses zu übernehmen. Ein besseres Agility-Training könnte es kaum geben. 

    Weitgehende Lösungsabstinenz von Trainierenden und Beratenden. Diese sind dazu da, die Ermöglichung von Lösungen anzuregen, indem sie Lernprozesse bei ihren Kunden anstoßen. Wer als Berater, Trainer oder auch als Führungskraft gewohnheitsmäßig selbst Lösungen für andere produziert, darf sich dagegen nicht wundern, wenn diese dann nicht für die Lösungsempfänger passen. Vor allem aber darf er sich nicht wundern, wenn die auf die Entgegennahme fremder Lösungen dressierten Menschen immer unfähiger werden, eigene Lösungen zu produzieren, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen (erlernte Hilflosigkeit).

    Rahmenbedingungen für Selbstdenker schaffen. Somit verstärken Führungskräfte ebenso wie die von ihnen eingekauften Dienstleister oft unbewusst die erlernte Hilflosigkeit von Menschen und Organisationen. Klaus Eidenschink hat das einmal „Allianzen der Lösungswut“ genannt. Gemeint sind die Zweckbündnisse zwischen Auftraggebern, die ihr Gewissen durch die Delegation der Lösungsfindung beruhigen und den Beratern, die gerne daran verdienen. Wer dagegen das Kant’sche sapere audehabe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen, in den Mittelpunkt von Personalentwicklung stellt, riskiert zwar eine proportional mit der abnehmenden Unmündigkeit zunehmende Widerständigkeit seiner Leute. Denn wer selbst denkt, lässt sich nicht mehr so leicht steuern.

    Allerdings gewinnt er idealerweise auch mehr Überzeugungstäter, die die Intelligenz des Teams oder der Organisation durch ihr Querdenken und die dadurch entstehenden inneren Spannungen steigern. Dann, wie Peter Kurse es einmal sinngemäß formuliert hat: wenn zu viele ihre Leute nach dem Ähnlichkeitsprinzip auswählen, steigt zwar die Harmonie, aber das Unternehmen unterliegt einer exponentiellen Verdummung. Schließlich geben die Störimpulse durch Andersdenkende wertvolle Anregungen, um die neuroplastisch festgefahrenen Rillen des eigenen Denkens und Handelns zu überwinden.

    Hierzu betrachten wir in Entwicklungsprojekten Diversity schon einmal außerhalb der ausgetretenen Pfade von Geschlecht oder Nationalität. Die Frage lautet dann vielmehr: „Wieviel unterschiedliche Arbeitsweisen, Meinungen, Haltungen habe ich in meinem Team? Gibt es genügend unbequeme „Bedenkenträger“ und „Querköpfe“ – Menschen, die mich mit ihren Vorschlägen und Ideen immer wieder in meinen verfestigten Mustern stören? Wie nutze ich diese als Impulsgeber und wie gebe ich ihnen eine Rolle, in der sie für meinen Verantwortungsbereich wertvoll werden?

  6. Plattformen für die Verschmelzung von Lernen und Arbeiten schaffen. Häufig stellt sich für Lernende im betrieblichen Kontext die Frage: wie schaufle ich mir bei all der Arbeitslast Zeit für Weiterbildung und für das Weiterlernen am Arbeitsplatz frei? Dabei lässt die rasante Entwicklung der Technik heute die Grenze zwischen Arbeiten und Lernen immer mehr verschwimmen und erfordert immer häufiger ein „Learning on the Job“. Denn Know-How muss nicht selten innerhalb von Stunden erworben werden, um ein gerade anstehendes Problem zu lösen. Wer in Google nicht fündig wird, weil das Problem unternehmensspezifische Zusammenhänge betrifft, greift zum Telefon oder geht zum Kollegen. Nicht immer ist der geeignete Ansprechpartner da oder hat das benötigte Wissen parat.

    Dann ist es gut, wenn eine Corporate Social Collaboration Plattform vorhanden ist, auf der das benötigte Wissen vielleicht schon einmal abgelegt wurde. Wenn nicht, wird der Sachverhalt als Frage eingestellt und kann von Kolleginnen und Kollegen zeitnah beantwortet werden. Das setzt natürlich voraus, dass das System gelebt wird und dass die Führungskräfte die Arbeit damit vorleben und unterstützen.

  7. Kollaborationsplattformen als OE-Instrument. Bisweilen entsteht durch das soziale Netzwerken am Arbeitsplatz auch eine Dynamik, die in Organisationsentwicklungs-Prozesse mündet. So hat man beispielsweise bei der Manpower-Group, einem Personaldienstleister, die interne Unternehmenskommunikation weitgehend von der E-Mail in das interne soziale Netzwerk verlagert. Diejenigen, die sich rege beteiligten, erhielten viele „Follower“ und viele positiven Bewertungen („Likes“). Dies half ihnen, Ihre Sichtbarkeit in Richtung Führungsebene auszubauen und an meinungsbildendem Einfluss zu gewinnen – sie wunden zu „Influencern“ und das unabhängig von ihrer hierarchischen Position. Die Dynamik, die dadurch entstanden ist, hat den Mitarbeitenden die Erfahrung beschert, dass sie keine „Rädchen im Getriebe“ sind, sondern etwas bewegen können. Auch die Führungskräfte durften an der systembedingt steigenden Transparenz und an den zunehmend pro-aktiveren und selbstbewussteren Mitarbeitern wachsen.

 

Gerade das Beispiel der Corporate Social Collaboration Plattformen zeigt ganz deutlich, wie Gehirnentwicklung im Erwachsenenalter am besten funktioniert: unser Steuerungsorgan im Kopf reagiert nur schwach auf Belehrung (z.B. die Instruktionspädagogik per PowerPoint) oder auf kurzfristige Maßnahmen (wie sie die Personalentwicklung oft in Form von Katalog-Seminaren anbietet). Es reagiert vor allem auf langfristig veränderte Umweltbedingungen, egal ob diese nun in einem physischen oder einem digitalen Umfeld stattfinden.

 

Diese Anpassungsfähigkeit gegenüber langfristig veränderten Umweltbedingungen ist und war der wesentliche Beitrag unseres hochentwickelten Gehirns zum Überleben unserer Art. Beim Menschen entwickelt dabei das soziale Miteinander eine ganz besondere Veränderungswirksamkeit. Schließlich ist die Fähigkeit zur Kollaboration – bei ansonsten im Vergleich zu anderen Spezies eher dürftiger Ausstattung in Sachen Kraft, Geschwindigkeit oder Sinnesschärfe –, der entscheidende Überlebensvorteil. Deshalb werden positive soziale Interaktionen auch mit einem Sonderbonus an Dopamin, Endorphinen, Oxytocin und anderen lernfördernden Substanzen incentiviert.

 

Spätestens seit der Entdeckung der Spiegelneuronen wissen wir: die alte, auf Zuckerbrot und Peitsche basierende Lernpsychologie (operante Konditionierung), die heute noch den meisten betrieblichen Anreizsystemen zugrunde liegt („Bonus oder Beförderungs-stau“ entsprechend „Futterpellet oder Elektroschock“), geht an dem wichtigsten Lern- und Motivationssystem des menschlichen Gehirns komplett vorbei: dem hochentwickelten frontalen Cortex, der, gespickt mit Dopamin-Rezeptoren und Spiegelneuronen, soziale Resonanz abbildet und überlegt motiviertes Handeln (exekutive Funktionen) ermöglicht. Nicht das subkortikale Motivationssystem tief unter der Motorhaube unseres Neocortex, das bei uns genauso funktioniert wie bei unserer Hauskatze oder unserem Hamster, wollen wir erreichen, wenn es darum geht, Menschen zu entwickeln.

 

Die Zielstruktur von Personalentwicklung ist der Cortex mit seinem Spiegelneuronen-System, das das Lernen von Vorbildern ermöglicht, denen wir uns verbunden fühlen. Schließlich entscheidet die Dichte der grauen Masse im Cortex nachweislich über die mentale Flexibilität (wenn man so will: Agility) und schließlich entscheidet die Stärke der vom Cortex in die primitiven limbischen Strukturen absteigenden Bahnen über unsere Selbststeuerungsfähigkeit. Nur wenn der Dirigent im Cortex einflussreich genug ist, sind Gier, Wut, Angst und andere aus dem subkortikalen Orchestergraben aufsteigende Entwicklungsbremsen unter Kontrolle. So wird die kortikale Entwicklung zu einem Reifegradindikator und einem Zielpunkt der Personalentwicklung. Sie ist – mit messbaren Resultaten in bildgebenden und psychometrischen Verfahren – trainierbar, vorausgesetzt, wir versuchen nicht, Menschen zu „dressieren“, sondern muten ihnen „art-gerecht“ herausfordernde und autonomiefördernde Lernerfahrungen in analoger oder digitaler sozialer Interaktion zu.

 

Ein solches lernförderndes Miteinander zu gestalten, in dem wir möglichst viele, intensive Begegnungen ermöglichen, ist eine lohnende Aufgabe für eine entwicklungsorientierte Führungs- und Personalarbeit. Digitale Kollaborationsplattformen und neue Formen der Lerngestaltung können ein wertvoller Teil davon sein. Die reale Begegnung von Angesicht zu Angesicht und die Wiederentdeckung alter Tugenden, Werte und Erkenntnisse (an die zu glauben wir zum Teil verlernt haben und die wir heute mit wissenschaftlichen Evidenzen wieder zur Geltung bringen können) bleiben indes mindestens ebenso wichtig wie die neuartigen technischen und methodischen Möglichkeiten.

 

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